Oasis: Pioniere des »Britpop«

Oasis: Pioniere des »Britpop«
Oasis: Pioniere des »Britpop«
 
Die geradezu unglaubliche Geschichte der Gebrüder Gallagher und ihrer Gruppe Oasis wirkt wie ein Rock-«n«-Roll-Märchen. Als eine von hunderten von Gitarrenbands aus Manchester, 1990 die Musikhauptstadt Großbritanniens, etablierten sie sich innerhalb weniger Jahre nicht nur als Vorreiter des Britpop und als feste Größe im Showgeschäft des Inselreichs, sondern als eine der erfolgreichsten britischen Bands aller Zeiten. Mit ihrer Musik, die deutliche Anleihen bei den Beatles, dem Glamrock und allem, was sonst noch gut und teuer ist, erkennen lässt, eroberten sie sich weltweit ein riesiges Publikum, das die Platten genauso begeistert kaufte wie es die Skandale um die Gebrüder Gallagher verfolgte. Ob der Siegeszug von Oasis (bei der Milleniumsumfrage der BBC Ende 1999 zur fünftbesten Band aller Zeiten gewählt) auch im neuen Jahrtausend fortgesetzt werden kann, wird nicht zuletzt ihr Anfang 2000 vorgelegtes, viertes Album zeigen.
 
 Anfänge und Plattenvertrag
 
1991 betrieben Sänger Liam Gallagher (* 21. September 1972), Gitarrist Paul »Bonehead« Arthurs (* 23. Juni 1965), Bassist Paul »Guigs« McGuigan (* 9. Mai 1971) und Schlagzeuger Tony McCarroll in Manchester die Musikgruppe Rain, deren Name sich auf einen weniger bekannten, für Eingeweihte allerdings Kultstatus genießenden Beatlessong bezog. Seit etwa 1989 hatten von Manchester aus Gruppen wie die Stone Roses, die Charlatans, die Happy Mondays oder die Inspiral Carpets eine neue Epoche des britischen Musikschaffens eingeläutet, und Rain versuchten wie viele andere Amateurbands, im Sog ihrer berühmten »Manchester«-Kollegen an die Spitze zu kommen. Liams älterer Bruder Noel (* 29. Mai 1967) hörte im August des Jahres eines der ersten Konzerte der Gruppe und fand sie unmöglich. Er hatte zwei Jahre lang die Inspiral Carpets als Gitarrenroadie begleitet und sich in dieser Zeit intensiv mit Musik und dem Business beschäftigt. Nun schlug er der Gruppe seines Bruders vor, als Gitarrist in die Band einzusteigen und all seine Erfahrung und sein Können in die Arbeit einfließen zu lassen. Allerdings stellte er die Bedingung, dabei die vollständige künstlerische wie geschäftliche Kontrolle ausüben zu können. Die Gruppe akzeptierte, und unter Noels Führung wurde unter dem neuen Namen Oasis intensiv geprobt und an neuem, ausschließlich aus der Feder Noels stammendem Material gearbeitet. Nach monatelangen Strapazen und Frustrationen (aufgrund vergeblich verschickter Demotapes) kam es im Mai 1993 zu dem denkwürdigen Auftritt der Gruppe, der die positive Wende brachte. Wie die Legende es will, fand dieser Auftritt im Glasgower »King Tut«s Wah Wah Club« nur deshalb statt, weil die eigentlich uneingeladene Gruppe gedroht hatte, den Laden zu demolieren, sollte man sie nicht spielen lassen. In jedem Fall: Sie präsentierten fünf Songs und beeindruckten damit den anwesenden Alan McGhee, Chef des legendären Plattenlabels Creation Records (The Jesus And Mary Chain, Primal Scream, My Bloody Valentine), der überzeugt war, in der Gruppe eine umsatzträchtige Mischung aus den Beatles und den Sex Pistols entdeckt zu haben. Im Oktober 1993 kam es zu einem auf England bezogenen Vertragsabschluss zwischen Creation und Oasis, im November zog Sony Music für den Rest der Welt nach.
 
 Der schnelle Aufstieg zur Supergruppe
 
Damit war die Bahn frei für einen Siegeszug, wie ihn die Musikgeschichte seit den Beatles oder den Rolling Stones nicht mehr erlebt hatte. Hatten die Gallagher-Brüder sich mit Band bald englandweit ein begeistertes Livepublikum erspielt, schürten sie zu zweit durch provokantes, rüpelhaftes Auftreten in der Öffentlichkeit und gegenüber der Musikpresse die entstehende Begeisterung. Im Frühjahr 1994 belegte ihre erste Single »Supersonic« Platz 1 der Independent Charts und in den offiziellen Verkaufscharts immerhin Platz 31. Mit den Folgesingles konnten sich Oasis, die mittlerweile von Presse und Publikum überschwänglich als Pioniere des zu Prominenz gelangenden »Britpop« gefeiert wurden, stetig verbessern (»Shakermaker« Platz 11; »Live Forever« Platz 10), doch das war alles nichts im Vergleich zu der Debüt-LP des Quintetts. »Definitely maybe« erschien im Herbst 1994, stieg auf Platz 1 in die Albumcharts ein und verkaufte sich im Verlauf eines halben Jahres 500 000-mal. Verantwortlich für diesen Erfolg war nicht nur die unglaublich geschmeidige, eingängige Gitarrenmusik, die an so ziemlich alles erinnerte, was die Popgeschichte an Wertvollem hervorgebracht hatte (insbesondere Beatles, Undertones, T. Rex), sondern auch Liams schöne, dabei recht schnoddrig eingesetzte Stimme. Textlich eher banal und recht anspruchslos, hatten sämtliche Kompositionen von Noel, einem ergebenen Anhänger John Lennons, Hitqualitäten. Mit dem von der Presse umjubelten »besten Debütalbum einer britischen Gitarrenband seit den ersten Platten der Smiths und von Jesus And Mary Chain« räumten Oasis Anfang 1995 bei den BRIT-Awards ebenso wie den alternativen BRAT-Awards kräftig ab, und nach einem Auftritt in der amerikanischen »David Letterman Show« begann auch der Musikmarkt jenseits des Teiches auf die Briten zu reagieren (die LP erreichte Platz 58 in den Billboard Hot 100). Zu Hause in England hingegen konnten Oasis mit ihrer Single »Some might say« im April 1995 ihren ersten Nr.-1-Hit feiern. Nach einer schlagzeilenträchtigen Prügelei zwischen den Brüdern und ihrem Schlagzeuger McCarroll flog dieser aus der Band, um im Juni von Alan White (* 26. Mai 1972) ersetzt zu werden.
 
 Kampf um die Britpop-Krone
 
In Großbritannien (und durchaus auch im Rest der Welt) verfolgte eine gespannte Öffentlichkeit während des gesamten Jahres 1995 einen erbitterten, verbal und medienträchtig geführten Schlagabtausch zwischen Oasis und ihrem größten Konkurrenten Blur, der anderen Spitzengruppe des Britpop um den charismatischen Sänger Damon Albarn. Beide Gruppen wurden zu Vertretern unterschiedlicher Gesellschaftsschichten stilisiert, wie das in England schon seit den Tagen des Rock 'n' Roll Tradition hatte (am bekanntesten dürfte die vermeintliche Fehde zwischen den Beatles und Rolling Stones sein). So wurde Oasis als dem Sprachrohr der Arbeiterklasse und des rauen englischen Nordens gehuldigt, Blur vertraten hingegen die wohlhabende Mittelschicht des liberalen Südens. Die vor diesem Hintergrund stattfindenden Rangeleien um den britischen Popthron kulminierten in einem sommerlichen Medienspektakel, als beide Gruppen ihre jeweils neue Single zeitgleich am 26. August 1995 veröffentlichten. Die Blursingle »Country house« schnellte auf Platz 1, wohingegen die Oasissingle »Roll with it« sich mit Rang 2 begnügen musste. Doch als im Oktober die zweite Oasis-LP » (What's the story) Morning glory?« auf Platz 1 in die LP-Charts einstieg (und mit über 7 Millionen verkauften Exemplaren zur meistverkauften britischen Platte aller Zeiten wurde), hatten Oasis ihre Genugtuung. Mit einer Reihe eingängiger, in extremem Ausmaß an die Beatles erinnernder Songs und den Erfolgssingles »Wonderwall« sowie »Don't look back in anger« sorgte die Platte nun auch dafür, dass Amerika der Gruppe zu Füßen lag (Platz 4 der Billboard-Charts).
 
 Skandale, Krisen und Megaerfolge
 
Nach einer Reihe renommierter Preise und Ehrungen um den Jahreswechsel machten Oasis — abgesehen von Noels Beteiligung an Projekten von Goldie und den Chemical Brothers — dann 1996 und weit bis ins Jahr 1997 Schlagzeilen weniger wegen musikalischer Leistungen, als vielmehr wegen Liams Verlobung und Hochzeit mit Patsy Kensit (einem blonden Groupie, das er dem Simple-Minds-Sänger Jim Kerr ausgespannt hatte) sowie heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern, die dazu führten, dass Konzerte in den USA abgesagt werden mussten und sich sogar die Auflösung der Gruppe anbahnte. Die britische Yellow Press reagierte begeistert und berichtete ausführlich, und Oasis rangierten im Interesse der britischen Öffentlichkeit (und sogar den TV-Nachrichten) gleich hinter Topthemen wie Irak und Rinderwahnsinn. Doch bereits 1996 hatten Oasis Pressemeldungen bezüglich Bruderzwistigkeiten und Krisen dementiert und ein neues Album angekündigt, das — nach endlosen Tourneen durch ausverkaufte Hallen und Stadien (legendär die an zwei aufeinander folgenden Tagen stattfindenden Konzerte in Knebworth vor insgesamt 250 000 Zuschauern) — im August 1997 erschien. »Be here now« schnellte sofort an die Spitze der englischen Hitparade und hielt sich dort acht Wochen lang, in den USA erreichte die Platte Platz 2 der Billboard-Charts. Auch dieses Album enthielt äußerst eingängige Songs und die Hitsingles »D«you know what I mean?« sowie »Stand by me«, was Noel Gallagher, der von berühmten Kollegen und Vorbildern wie Paul McCartney oder Mick Jagger durchaus als bedeutender Komponist gewürdigt wurde (der Modernist David Bowie hingegen kanzelte die Musik als Retropop ab), dazu veranlasste, Oasis für größer als die Beatles zu halten. Weder Aussagen wie diese noch Liams allfälliges Fernbleiben von Konzerten, das er mit Schlägereien und Beleidigungen zu kompensieren suchte, konnten dem weltweiten Riesenerfolg von Oasis schaden: Auch eine Interimspublikation wie »The Masterplan« fand im November 1997 ihre Käufer und festigte den Ruf der Gruppe als eine der bedeutendsten Rockbands der Neunzigerjahre. Eine weitere Singleauskopplung aus »Be here now«, der an das epische »Hey Jude« von den Beatles erinnernde Song »All around the world«, kletterte Anfang 1998 an die Spitze der englischen Hitparade. Das bereits zu diesem Zeitpunkt angekündigte nächste Album ließ dann jedoch bis Anfang 2000 auf sich warten. Erwachsener, reifer sowie bass- und groovelastiger als die bisherigen Arbeiten erschien Ende Februar »Standing on the shoulder of giants«. Die langjährigen Mitstreiter Paul »Bonehead« Arthurs und Paul McGuigan hatten nach Abschluss der Aufnahmen ihren Ausstieg bekannt gegeben, und an ihre Stelle rückten Gem Archer (Gitarre) und Andy Bell (Bass). Mit neuer Besetzung, neuem Bandlogo und veränderter, entspannterer Lebenshaltung machten sich die Gebrüder Gallagher daran, auch im neuen Jahrtausend im Popgeschäft das eine oder andere zu sagen.
 
 
Definitely maybe (1994)
 
(What's the story) morning glory? (1995)
 
Be here now (1997)
 
Standing on the shoulder of giants (2000)
 
 
Christian Seidl: Oasis. What's the story? München 1996.
 Paolo Hewitt: Oasis. Die Arroganz der Gosse. Aus dem Englischen. St. Andrä-Wördern 1997.
 Paul Lester: Oasis. The illustrated story. Neuausgabe London 1977.

Universal-Lexikon. 2012.

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